Am 17.08.2022 ist die Überarbeitung der S1-Leitlinie Long/Post-COVID der medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) erschienen. Diese Leitlinie fasst die aktuellen evidenzbasierten klinischen Empfehlungen zum Long- bzw. Post-COVID-Syndrom sowie die diagnostischen Ansätze und Therapien zusammen. Das Leitliniengremium setzt sich aus vielen Expertinnen und Experten unterschiedlicher medizinischer Fachgesellschaften unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V. (DGP) zusammen. Der Präsident des Deutschen Verbands für Gesundheitssport und Sporttherapie e.V. (DVGS), Professor Dr. Gerhard Huber, sowie der Ressortleiter Wissenschaft des DVGS, Dr. Stefan Peters, haben im Expertenzirkel das Thema körperliche Aktivität und Sport-/Bewegungstherapie vertreten, das zum ersten Mal ausführlich in der Leitlinie berücksichtigt wurde. Wir sprechen mit Professor Dr. Gerhard Huber über die Arbeit in dem Expertengremium und die Bedeutung von Sport-/Bewegungstherapie beim Long/Post-COVID-Syndrom.

DVGS: Sie waren an der aktuellen Überarbeitung der S1-Leitlinie Long/Post-COVID beteiligt. Wie kam es, dass der DVGS bei der Leitlinienaktualisierung eingebunden wurde?
Professor Gerhard Huber: Wir stehen in intensivem Austausch mit verschiedenen medizinischen Fachgesellschaften und erfreulicherweise wird die Bedeutung der körperlichen Aktivität mehr und mehr erkannt. Dies schlägt sich dann auch in der Mitwirkung bei der Erstellung von Leitlinien nieder. Die Aufgabe ist mit einigem Aufwand verbunden und gerade bei einem neuen und komplexen Problem wie Long COVID ist die Konsensfindung der insgesamt 27 Fachgesellschaften noch aufwendiger.

DVGS: Welche Rolle hatten Sie in der Runde? Gab es einen breiten Konsens, was das Thema körperliche Aktivität bei Long/Post-COVID betrifft, oder sind Sie eher auf Widerstände gestoßen?
Professor Gerhard Huber: In der ersten Fassung der Leitlinien spielte körperliche Aktivität nur eine marginale Rolle, es ging lediglich um die Wiederaufnahme der sportlichen Aktivität nach einer COVID-19-Erkrankung. Nachdem aber nun einige Erfahrung und erste Studien zu den gesundheitlichen Potenzialen der körperlichen Aktivität vorliegen, war es leicht, Unterstützung zu finden. Nützlich war hier die Expertise, die wir aus verschiedenen klinischen Erfahrungen einbringen konnten. Nach den ersten Abstimmungen war es Konsens, dem Thema trotz der Themenfülle ein eigenes Kapitel zu widmen.

DVGS: Wie ist der aktuelle Forschungsstand und Evidenzgrad für körperliche Aktivität bei Long/Post-COVID? Welche Fragestellungen in Hinblick auf Bewegung und das Long/Post-COVID-Syndrom wurden bisher wissenschaftlich untersucht?
Professor Gerhard Huber: Coronavirus-Erkrankungen und die Langzeitfolgen stellen eine Herausforderung für das gesamte System der medizinischen Versorgung dar. Epidemiologische Daten zu Long COVID sind noch nicht sehr belastbar, die Diagnostik ist noch weit davon entfernt, sichere Aussagen zu treffen. Vor diesem Hintergrund stützen wir uns auf alle vorliegenden Studien, verbinden dies aber mit den bewegungstherapeutischen Erfahrungen mit den betroffenen Menschen und können natürlich Wissen und Erfahrungen aus anderen Indikationsgebieten nutzen. Wer sich mit dem Thema des „Cancer related Fatigue (CRF)“ auskennt, kann natürlich eine Translation zu Long COVID herstellen. Diese im DVGS vorhanden Expertise ist hier extrem wertvoll. Aus der vorliegenden Evidenz wissen wir, dass

  • körperliche Fitness eine eindeutige präventive Wirkung vor schweren Verläufen einer COVID-19-Erkrankung hat,
  • für die meisten Menschen mit Long COVID eine gezielte Bewegungstherapie, wie sie im Anhang der Leitlinie und im DVGS-Factsheet definiert werden, therapeutisch wirksam ist,
  • für alle betroffenen Menschen langfristig wieder mindestens 150 Minuten körperliche Aktivität in der Woche anzustreben sind, um unter anderem die Gesundheit des kardiovaskulären Systems zu erhalten.

DVGS: Wie lauten die konkreten Empfehlungen für Long/Post-COVID-Betroffene hinsichtlich körperlicher Aktivität? Unterscheiden sich diese, je nachdem ob jemand von Long- oder Post-COVID betroffen ist. Oder macht das Alter einen Unterschied?
Professor Gerhard Huber: Dies haben wir auf besonderen Wunsch der Arbeitsgruppe präzisiert und in die Leitlinien integriert. Zusätzliche Informationen finden sich im Anhang der Leitlinie und in dem Fact Sheet zu Long/Post-COVID des DVGS. Grundsätzlich gilt für alle betroffenen Menschen die oben erwähnte Forderung nach mindestens 150 Minuten körperlicher Aktivität in der Woche. Ansonsten gilt die einfache Regel, dass die Anforderung an die Bewegungstherapie mit der Komplexität der Long-COVID-Problematik steigt.

DVGS: Profitieren alle Long/Post-COVID-Patientinnen und -Patienten gleichermaßen von körperlicher Aktivität? Gibt es Kontraindikationen?
Professor Gerhard Huber: Grundsätzlich benötigen alle Patientinnen und Patienten eine ihnen angemessene Form der Bewegungsförderung. In sehr seltenen Fällen, insbesondere nach schweren Verläufen und bei Menschen, die bereits vorher untrainiert waren („eine niedrige aerobe Kapazität haben“), kommt es zu einer anhaltenden Einschränkung der Leistungsfähigkeit, bei der nicht professionell angeleitete körperliche Aktivität zu einer Symptomausweitung führen kann. Dieses Phänomen der Post Exertional Malaise (PEM) erfordert eine erfahrene Therapeutin bzw. Therapeuten. Dies sollte nicht zu langfristiger körperlicher Inaktivität führen. Mit professioneller Unterstützung erhalten alle betroffenen Menschen eine gezielte Anleitung für eine effektive Bewegungstherapie.

DVGS: Gibt es eine wissenschaftliche Evidenz, dass regelmäßige körperliche Aktivität das Risiko einer Long/Post-COVID-Erkrankung verringert? Also kann Bewegung hier als Präventionsmaßnahme gesehen werden?
Professor Gerhard Huber: Seit einigen Monaten zählt das amerikanischen Center for Disease Control die körperliche Inaktivität zu den relevanten Faktoren, die das Risiko für einen schweren Verlauf der COVID-19-Erkrankung erhöhen. Damit wirkt körperliche Aktivität auch präventiv für Long COVID.

DVGS: Long/Post-COVID kann sich durch eine Vielzahl unterschiedlicher Symptome und Beschwerden bemerkbar machen, angefangen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen über neurologische Störungen, Beeinträchtigung des Geruchs- und Geschmackssinns oder Hauterkrankungen. Bei welchen Erkrankungen gibt es eine Evidenz für einen Nutzen von körperlicher Aktivität oder Bewegungstherapie?
Professor Gerhard Huber: Mit Ausnahme der dermatologischen Symptome, der Geruchsbeeinträchtigung und der Augenprobleme liegt eine erdrückende Evidenz für die Wirksamkeit und damit für die Relevanz der körperlichen Aktivität vor. Neben diesen indikationsspezifischen Aspekten sind es aber vor allem die generalisierten Mechanismen der körperlichen Aktivität, von denen eine deutliche therapeutische Wirkung ausgeht. Dies sind die Breitbandwirkung der Entzündungshemmung und die Stimulierung des Immunsystems, mit der jede Form der Muskelaktivität verbunden ist.

DVGS: Wie schätzen Sie die aktuelle Verbreitung von sport-/bewegungstherapeutischen Maßnahmen bei der Therapie von COVID-Patientinnen und -Patienten ein? Wo sehen Sie Barrieren, die aktuell noch bestehen? Was unterstützt die Integration der Sport-/Bewegungstherapie bei der Behandlung von Long-/Post-COVID-Betroffenen?
Professor Gerhard Huber: Die spürbare allgemeine Verunsicherung angesichts der Long-COVID-Problematik schlägt sich natürlich auch auf die Akzeptanz der bewegungstherapeutischen Maßnahmen nieder. Zusätzlich trägt die mediale Verbreitung des seltenen PEM-Phänomens dazu bei, die betroffenen Menschen zu verunsichern. Grundsätzlich benötigen alle betroffenen Menschen eine auf ihre Symptomatik abgestellte Form der Bewegungstherapie. Die hier häufig eingeforderte Methode des „Pacings“ ist als angepasste Belastungssteuerung schon immer eine Kernkompetenz der Bewegungstherapie. Unter „Pacing“ versteht man eine Strategie, mit der man individuell die eigenen Kräfte einteilt, um Bewegung in den Alltag integrieren zu können und damit ein „gesundes Mittelmaß“ zu finden. Die Hinführung zur Bewegung z. B. für Herztransplantierte, Krebspatientinnen und -patienten und bei schweren neurologischen Verläufen wäre ohne diese Form des Energiemanagements (Pacing) nicht möglich.

DVGS: Die Leitlinie empfiehlt, dass die Bewegungstherapie individuell dosiert und möglichst angeleitet durch qualifizierte Bewegungsfachkräfte mit indikationsspezifischer therapeutischer Zusatzqualifikation Sport-/Bewegungstherapie erfolgen sollte. Warum ist das so wichtig?
Professor Gerhard Huber: Die einfache Empfehlung zu mehr körperlicher Aktivität reicht schon für die Normalbevölkerung nicht aus, das belegen die verfügbaren Daten. Umso mehr brauchen komplexe Probleme wie Long COVID auch differenzierte Konzepte und professionelle Umsetzung.

DVGS: Wissen Sie, welche Erfahrungen die mit dem DVGS kooperierenden ambulanten Reha-Einrichtungen machen? Wie sehen die Rahmenbedingungen für diese Einrichtungen aus, wenn Sie Long/Post-COVID-Patientinnen und -Patienten begleiten?
Professor Gerhard Huber: Tatsächlich findet sich in den ambulanten und stationären Einrichtungen eine immer größere Anzahl von betroffenen Menschen. Die dort in der Bewegungstherapie gemachten Erfahrungen sind für uns wichtig und bestätigen, dass

  • die Rahmenbedingungen in der Regel gut geeignet sind,
  • die Bewegungstherapie von den meisten Patientinnen und Patienten gut akzeptiert und als wirksam erlebt wird,
  • für die meisten Fälle ein kombiniertes Kraft- und Ausdauertraining sehr gut geeignet ist.

DVGS: Wie schätzen Sie die allgemeine derzeitige Versorgunglage mit Sport-/Bewegungstherapie für Long/Post-COVID-Patientinnen und -Patienten ein?
Professor Gerhard Huber: Das Problem besteht eher darin, das Long-COVID-Patientinnen und -Patienten einen langen Marsch durch das Gesundheitssystem hinter sich haben, bevor sie in den Reha-Einrichtungen ankommen. Dort ist die Infrastruktur sicher gut, allerdings verdrängt der Bedarf an Long-COVID-Rehabilitationsplätzen andere Indikationen, die ja auch einen Anspruch haben.

DVGS: Wie lässt sich eine flächendeckende Versorgung Ihrer Meinung nach sichern? Was brauchen die Einrichtungen wie Reha-Kliniken oder ambulante Einrichtungen dafür?
Professor Gerhard Huber: Kurzfristig lässt sich dies im Rehabilitationssystem sicher nicht ändern. Eine Chance besteht darin, mehr Menschen mit weniger ausgeprägter Symptomatik in niederschwellige Angebote zu bekommen. Mehr Informationen für die Ärztinnen und Ärzte, wie sie die Leitlinien und das DVGS-Factsheet zum Thema bieten, sind daher sehr wichtig.

DVGS: Wie kann Ihrer Meinung nach gesichert werden, dass die Qualitätsstandards hier gesichert sind? Wie müssen Therapeuten geschult sein und welche Qualifizierungsangebote muss wer anbieten?
Professor Gerhard Huber: Das ist für den DVGS eine zentrale Aufgabe. Wir müssen die Evidenz sichten, kommunizieren und Weiterbildungsangebote in unserem System schaffen.

DVGS: Welche Aufgaben hat in Ihren Augen hier der DVGS?
Professor Gerhard Huber: Mit der Beteiligung an der Leitlinienerstellung sind zahlreiche Aufgaben verbunden. Wir haben die Verantwortung für die evidenzbasierte konzeptionelle Gestaltung von spezifischen Bewegungsinterventionen. Wir haben die Aufgabe, dies im Gesundheitssystem zu kommunizieren und dafür zu sorgen, dass diese Interventionen auch umgesetzt werden. Letztendlich ist es mittel- und langfristig auch notwendig, die entsprechende Forschung zu initiieren und zu unterstützen.

DVGS-Medien zum Thema

DVGS-Factsheet Long/Post-COVID-Syndrom und Bewegung

Ansprechpartner DVGS

Professor Dr. Gerhard Huber
Präsident DVGS
Vogelsanger Weg 48
50354 Hürth-Efferen
E-Mail: gerhard.huber@issw.uni-heidelberg.de

Dr. phil. Stefan Peters
Ressortleiter Wissenschaft, Hochschulbetreuung DVGS
Vogelsanger Weg 48
50354 Hürth-Efferen
E-Mail: stefan.peters@dvgs.de

Angelika Baldus
Hauptamtlicher Vorstand DVGS
Vogelsanger Weg 48
50354 Hürth-Efferen
E-Mail: angelika.baldus@dvgs.de

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